Die dünne Schicht der Zivilisation
Die dünne Schicht der Zivilisation
Das Staatstheater Mainz eröffnete die Spielzeit mit einer herausragenden, aber düsteren Inszenierung von Karl Amadeus Hartmanns „Simplicius Simplicissimus“
Beitrag erschienen in das Orchester 12/2014
„Hier durch die Schanz und Stadt rinnt allzeit frisches Blut; / Dreimal sind schon sechs Jahr, als unser Ströme Flut, / Von Leichen fast verstopft, sich langsam fortgedrungen…“ – Das Gedicht Thränen des Vaterlandes von Andreas Gryphius aus dem Jahr 1636 zeigt ebenso wie der Roman Der Abentheuerliche Simplicissimus Teutsch von Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen (veröffentlicht 1668) die unvorstellbare Brutalität des Dreißigjährigen Krieges, der zwei Drittel der deutschen Bevölkerung auslöschte und sich über die kommenden Jahrhunderte als nationales Trauma tief ins deutsche Bewusstsein einbrannte.
„Wie gegenwärtig kam mir das vor“, beschreibt Karl Amadeus Hartmann seine erste Begegnung 1934 mit Grimmelshausens Roman. In düsterer Vorahnung des Zweiten Weltkriegs schuf er aus den ersten Kapiteln des Buchs seine Oper Simplicius Simplicissimus als Anklage gegen Unmenschlichkeit und Barbarei wie auch als Aufruf zum Widerstand.
Und heute? In Internetvideos werden abgeschlagene Köpfe präsentiert, die Leichen eines Flugzeugabsturzes werden zur Verhandlungsmasse zwischen den Kriegsparteien – wie dünn die Schicht der Zivilisation in Wahrheit ist, zeigt sich auch in unserer Zeit Tag für Tag. Und belegt die Dringlichkeit der Aufführung einer Oper, die noch immer erschüttern und aufrütteln kann.
Zumal dann, wenn sie so eindringlich und kompromisslos präsentiert wird wie am Staatstheater Mainz, das mit dieser Saisoneröffnung einen starken Akzent setzte. Das Team um GMD Hermann Bäumer und Hausregisseurin Elisabeth Stöppler entschied sich für Hartmanns Frühfassung der Oper von 1934/35, die gegenüber der späteren Umarbeitung (1956) musikalisch weniger sinnlich, deutlich härter und direkter klingt. Ebenso verzichtete man auf die 1939 von Hartmann hinzugefügte Ouvertüre, wodurch das Publikum ohne Vorlauf oder „Eingewöhnungszeit“ in die Handlung hineingezogen wird.
Nicht ganz verzichten wollte man offenbar auf das Zwischenspiel der Spätfassung – ein Meisterwerk an Klangsinnlichkeit, Instrumentationskunst und Ausdruck der Trauer Hartmanns –, das jedoch nur verkürzt wiedergegeben und an anderer Stelle als von Hartmann vorgesehen eingeschoben wurde. Ein Eingriff, der in der Logik der Inszenierung jedoch durchaus schlüssig war. Weniger überzeugen konnten weitere Eingriffe im dritten Teil mit Rollenvertauschungen, die für unnötige Verwirrung sorgten und nur mit Mühe und einiger Verbiegung des Librettos wieder aufgelöst werden konnten.
Elisabeth Stöpplers Idee, den Sprecher, der gerade in der Frühfassung eine entscheidende Rolle einnimmt und mit seinen Kommentaren das oft disparate Werk zusammenhält, als Trommler in die Handlung zu integrieren, kann hingegen nur als Geniestreich bezeichnet werden. Alexander Maczewski löste die schwierige Doppelaufgabe als Trommler und Sprecher zugleich präzise und überzeugend.
Das Bühnenbild von Annika Haller bestach durch seine Schlichtheit und enorme Wandlungsfähigkeit. Große Pappkisten, wie man sie in Archiven findet, beschriftet mit Jahreszahlen von Kriegen und Katastrophen der Menschheitsgeschichte, bildeten Wände, Räume und Barrieren, zwischen denen sich der Chor und die Handelnden souverän bewegten. Der Sprechchor hat eine enorm wichtige, aber auch extrem schwierige Partie zu bewältigen. Im ersten Teil hätte man sich eine deutlichere Textverständlichkeit gewünscht. Hier war die Übertitelung sehr hilfreich.
Marie-Christine Haase war ein berührender Simplicius mit zartem und doch strahlendem Sopran. Auch schauspielerisch bewältigte sie die unglückliche Regieidee, im dritten Teil in einer Doppelrolle als Simplicius und geschändete Dame auftreten zu müssen, bravourös. Alexander Spemann als Einsiedel kämpfte zunächst etwas mit der intonatorisch schweren Partie, sang sich dann jedoch frei und sorgte im Duett mit Marie-Christine Haase für eindringliche Momente. Absolut überzeugend die Inszenierungsidee, den Einsiedel – wie auch in der Romanvorlage – als traumatisierten Ex-Soldaten darzustellen, der beim Klang der Landsknechtstrommel in rhythmisches Zittern ausbricht. Die Brutalität von Landsknecht, Hauptmann und Gouverneur wurde von Heikki Kilpeläinen, Stephan Bootz und Jürgen Rust rollenkonform gestaltet.
Die Kammerbesetzung des Philharmonischen Staatsorchesters Mainz unter der Leitung von Hermann Bäumer spielte differenziert, durchhörbar und mit einer klanglichen Härte, die ganz dem Regiekonzept entsprach. Folgerichtig auch die Änderung des Schlusses: Im Gegensatz zu Hartmann bleibt hier kaum Hoffnung. Der Aufstand scheitert, der Gouverneur überlebt. Ein wahrlich düsterer Simplicius, der einen resignierten Kommentar zum aktuellen Weltgeschehen abgibt.