Wirklich wirklich
Wirklich wirklich
Die Staatsoper Stuttgart geht auf die Suche nach der „Wahrheit“
Beitrag erschienen in Neue Gesellschaft|Frankfurter Hefte 6/2019
Leiden wir alle unter dem Anton-Syndrom? Dieses nach dem österreichischen Neurologen Gabriel Anton (1858–1933) benannte medizinische Phänomen bezeichnet die Unfähigkeit von Blinden, ihre Blindheit (an-)zu erkennen. Beim Anton-Syndrom fehlt den Erblindeten die Einsicht ihrer Krankheit: Sie imaginieren voll innerer Überzeugung ihre eigene Wirklichkeit. Auf Nachfrage beschreiben sie sehr konkret die Welt, die sie um sich herum „sehen“. Vieles von dem, das zu sehen sie physiologisch nicht in der Lage sind, erschließen sie sich beispielsweise durch Plausibilität.
Beim Versuch, die Wahrheit oder Wirklichkeit zu erkennen, sind auch vermeintlich Sehende oftmals vom Anton-Syndrom bedroht. Doch wie entsteht diese Blindheit für die eigene Blindheit? So lautete die Ausgangsfrage von Bernhard Pörksen, Professor für Medienwissenschaften an der Universität Tübingen, in seinem Vortrag „Illusionen der Wahrheit“, der die Gefahr der Gewissheit und die Nützlichkeit des Zweifels thematisierte und damit den Wirklichkeitskongress der Staatsoper Stuttgart eröffnete. Der Kongress wiederum bildete den Abschluss des erstmalig veranstalteten Frühjahrsfestivals der Stuttgarter Staatsoper. Ausgangspunkt waren die Neuproduktionen der Opern Nixon in China von John Adams und Der Prinz von Homburg von Hans Werner Henze. Während der erste Besuch eines US-Präsidenten in China vor allem als bildgewaltiges mediales Ereignis in die Geschichte einging, stehen in Henzes Oper die Träume eines Außenseiters, der sich seiner Rolle als Herrscher widersetzt, im Zentrum. So ging das Festival unter dem Motto „wirklich wirklich“ Fragen nach Traum und Wirklichkeit, Realität und Illusion nach. Wie lassen sich Traum und Wirklichkeit voneinander unterscheiden? Und welche Wirklichkeit ist wirklich wirklich?